Wir grüßen euch als Berliner Ortsgruppe des Vereins Demokratischer Ärzt*innen.
Wir haben uns als Verein begonnen, mit dem Thema der gesundheitlichen Versorgung in Haft zu beschäftigen, da uns regelmäßig Briefe von Menschen in Haft erreichen, die die schlechte Gesundheitsversorgung in Haft anprangern. Darüber hinaus thematisieren sie in den Berichten aber auch das gesundheitsschädliche einer Freiheitsstrafe selbst. Dies hat uns zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Strafvollzug und Maßregelvollzug gebracht.
Wer in der Bundesrepublik rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt oder
zu einer Ersatzfreiheitsstrafe gezwungen wird, landet in der Regel für eine
bestimmte Zeit in einer Justizvollzugsanstalt; im Falle lebenslanger Haftstrafen, von Sicherungsverwahrung und einer Verwahrung im Maßregelvollzug jedoch für unbestimmte Zeit. Der Zweck der Freiheitsstrafe ist in diesem Rechtsstaat laut Gesetzgebung die Resozialisierung – nicht jedoch, der inhaftierten Person Schaden und Leid zuzufügen. In den jeweiligen Strafvollzugsgesetzen der Länder wird der Anspruch formuliert, dass inhaftierte Menschen durch die Haftstrafe zu einem Leben in Freiheit mit sozialer Verantwortung und ohne zukünftige Straftaten befähigt werden sollen. Dabei sollen die Lebensverhältnisse im Vollzug möglichst denen in Freiheit angeglichen werden und schädigende Folgen des Freiheitsentzuges vermieden werden.
Nicht zu vergessen jedoch ist das Gesundheitsschädliche eines Freiheitsentzuges selbst: psychosoziale Belastungen und Isolation, Bewegungsmangel und ungesundes Essen sind Probleme, die nur teilweise durch strukturelle Verbesserungen in Haftanstalten gelöst werden können. Diese Widersprüchlichkeit von Strafe und Resozialisierung erstreckt sich über die medizinische Versorgung hinaus: Sind die Unterbringung, das Personal, die Arbeits-oder Beschäftigungsbedingungen und auch (Weiter-) Bildungsmöglichkeiten für
die inhaftierten Personen, sind die sozialen Verhältnisse in deutschen Gefängnissen
so, dass sie dem Ziel der Resozialisierung entsprechen?
Muss man nicht grundsätzlicher fragen: Ist eine Unterbringung in Gefängniszellen
überhaupt dem Resozialisierungsziel zuträglich oder widerspricht sie diesem? Wer kommt überhaupt ins Gefängnis und für welche Delikte? Aus welcher gesellschaftlichen
Situation landen Menschen im Gefängnis und müssen „resozialisiert“ werden? Wir müssen auch fragen: Warum wurden diese Menschen vorher „entsozialisiert“? Wir gehen davon aus, dass sie daran nicht alleine und individuell schuld sind, sondern dass sie auch durch die gesellschaftlichen Bedingungen dort gelandet sind.
Auf den Maßregelvollzug bezogen müssen wir uns fragen: Wie ist überhaupt der Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und Straffälligkeit? Anders als oft behauptet, besteht wissenschaftlich kein eindeutiger Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und der Entstehung von Straftaten sowie der Prognose einer Gefährdung für zukünftige Straftaten.
Wenn es um mittelfristige Veränderungen geht, unterstützen wir die Forderungen nach verbesserten Unterbringungsbedingungen im Klinkum des Maßregelvollzugs. Wir haben jedoch den Eindruck gewonnen, dass eine alleinige Ausweitung und verbesserte finanzielle Ausstattung des Maßregelvollzugs, wie sie aktuell vom Berliner Senat versprochen wird, nicht ausreicht. Vielmehr scheint eine Entwicklung im Maßregelvollzug erfolgt zu sein, die nicht nur dysfunktional ist, sondern die eine massive Verletzung der Menschenrechte der im Maßregelvollzug untergebrachten Menschen bedeutet.
Als Ursachen sehen wir insbesondere eine autoritäre gesellschaftliche Entwicklung mit verstärkter Wegschließ-Mentalität und verschärfter Gesetzgebung und zunehmender struktureller Verachtung und Feindseligkeit gegenüber vulnerablen Menschen mit besonderer psychosozialer gesundheitlicher Problemstellung, wie sie unter dem Begriff des Ableismus zusammengefasst werden kann.
Wir haben deshalb mit Aufmerksamkeit die Forderungen des Fachausschuss Forensik der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie verfolgt,welcher die Auflösung des Maßregelvollzuges und dessen Transformation in den allgemeinen Strafvollzug fordert. So schreiben die Autor*innen, dass die fehlende Evidenz der Wirksamkeit einer Verwahrung im Maßregelvollzug auf die psychische Erkrankung und Straffälligkeit, die deutlich längere Dauer des Freiheitsentzugs bei gleichen Straftatbeständen und die Tatsache, dass die Lockerung oder Entlassung einer untergebrachten Person weniger eine Frage seiner individuellen „Gefährlichkeit“ ist, als vielmehr vom jeweiligen und situativen Zusammenspiel aller am Vollzug der Maßregel beteiligten Organisationen abhängt, zeigt, dass das System des Maßregelvollzugs “sich als dysfunktional für das Ziel einer Besserung des Krankheitszustandes der Patientinnen erweist. Es ist im Blick auf die betroffenen untergebrachten Personen und die Menschen, die sich ihnen verbunden und nahe wissen, auch moralisch längst nicht mehr haltbar.”
Als Berliner Ortsgruppe des Vereins demokratischer Ärzt*innen halten wir diese Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie als wegweisend, wenn es um das Nachdenken über eine zukünftige Ausgestaltung des Maßregelvollzugs geht.
Darüber hinaus fordern wir eine grundlegende Reform des Strafvollzugs, die an anderen Formen des Strafens orientiert ist, nicht an „Vergeltung“, sondern an Prävention
und Opferschutz. Angelehnt an die Analysen des Rechtsanwalts und ehemaligen Leiters einer Justizvollzugsanstalt Thomas Galli, könnten zukünftige Strafen besipieslweise eher in Form von dezentralen und offenen Formen des Freiheitsenzuges, elektronisch überwachtem Hausarrest oder gemeinnütziger Arbeit als Hauptstrafe erfolgen. Grundsätzlich sollten “Straftaten als Ausdrucke sozialen Wandels verstanden werden, weshalb es nicht nur um die (gerade bei schwersten Straftaten) kaum mögliche Wiederherstellung dysfunktionaler Verhältnisse gehen kann, sondern im Sinne der Transformation um einen Anstoß zur Schaffung einer inklusiveren, gerechteren Gemeinschaft.”